27.5.15

Zeitlosigkeit und neue Bekannte

Irgendwie haben alle nun total den zeitlichen Überblick verloren hier im Zug - wir befinden uns gerade kurz vor Nowosibirsk, 3.000 km von Moskau und drei Zeitzonen entfernt, und keiner weiß mehr so recht, wieviel Uhr es gerade ist. Egal, es spielt eigentlich keine Rolle, es wird geschlafen, wenn's dunkel wird oder man tagsüber müde ist, gegessen, wenn man hungrig ist, und getrunken eigentlich eh die ganze Zeit. So halten es zumindest die beiden Georgier im Abteil nebenan, die sich vom ersten Tag an in Titus verguckt haben, ihn permanent busseln, auf den Arm nehmen, herzen, ihm Spielzeug kaufen und nun auch noch Norman und mich in ihre "Familie" aufgenommen haben

Das führte dazu, dass wir beim Abendessen im Bordrestaurant (um 16 Uhr Moskauer Zeit) bereits volle Wodka- und Biergläser vor uns stehen hatten und gemeinsam mit den angestellten Damen des Lokals Brüderschaft trinken durften, in einem lustigen Sprachenwirrwarr aus Russisch, Georgisch, Deutsch und Englisch. Titus wurde immer mal wieder in die Küche entführt, keine Ahnung, was er dort alles erlebt hat, zumindest war er pappsatt und todmüde, als ich ihn gerade ins Bett gelegt habe.

Der Tag fing heute aber auch schon wieder früh an, der kleine Mann krabbelte bereits um halb fünf Moskauer Zeit (d.h. halb sieben zur Ortszeit?) auf mir herum und wollte auf Erkundungsgang gehen, also taten wir ihm den Gefallen.Kurz darauf entschwand Norman mit ihm, wollte einen kurzen Ausflug durch den Zug, der aus 13 Wagen besteht, machen, und kehrte erst eine gute Stunde später zurück. Bereits vormittags war wohl eine kleine "Party" im Speisewagen zugange, mit besagten Georgiern und den Angestellten, die bei einem üppigen Frühstück und dazu passenden und unpassenden Getränken beisammensaßen und Norman und Titus gleich mal dazu einluden.


Titus war also bereits in Feierlaune und schloss gleich darauf innige Freundschaft mit der zweijährigen Rita und v.a. ihren Puppen, die ein paar Abteils weiter mit ihrer Mama und ihrem Bruder reist und sehr begeistert von einem kleinen Spielzeugaustausch war. Überhaupt sind erstaunlich viele Familien (Mütter!) mit kleinen Kindern an Bord, die sich aber meistens eher im Abteil verstecken und eher vorsichtig in der Kontaktaufnahme sind.

Wegen des ganzen aufregenden Vormittags verschlief unser kleiner Zugfahrer leider die Mittagsessenszeit (wobei wir eh momentan nicht wissen, wann die genau sein soll), und den längeren Aufenthalt in Omsk, verweigerte anschließend glaubhaft den Tüten-Kartoffelbrei und mampfte stattdessen die 5-Minuten-Nudelterrine von Norman weg, die wir an irgendeinem Bahnhof morgens erstanden hatten.

Während Titus draußen im Gang fröhlich hin und herkrabbelte, in alle Abteile reinspähte und alle Schuhe, denen er habhaft werden konnte, entführte, veränderte sich draußen merklich die Landschaft - die Birkenwälder wurden weniger, stattdessen machte sich Steppe breit, und wir stellten fest, dass Sibirien ganz schön flach ist.


Nachmittags erreichten wir den Bahnhof von Babalinsk, und nutzen den halbstündigen Aufenthalt, um ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen. Am Bahnsteig standen zig Händler bereit, ihren geräucherten Fisch, Blinis, Piroggen und Fellmützen an den Mann zu bekommen.

Tatsächlich muss man die längeren Zwischenstopps immer ein bisschen im Auge behalten, nicht nur, weil diese die einzige Gelegenheit bieten, mal nach draußen zu kommen, sondern auch, weil ein ganzes Stück vorher bis ein ganzes Stück danach die Toiletten (die sich direkt auf die Gleise entleeren...) abgeschlossen werden von den Provodnitsas. Wir sind aber offenkundig gern gesehene Fahrgäste und werden nun jedes Mal extra darauf hingewiesen, dass wir gerne die Toilette benutzen dürften, wenn wir möchten, auch am Bahnhof!

Erstaunlich ist im Übrigen noch, dass wir auch noch gut 53 Stunden Fahrzeit jedes Zwischenziel exakt pünktlich erreichen, der Fahrplan wird akribisch eingehalten, obwohl auf der Strecke durch den ganzen Kohleabbau und die Ölindustrie doch recht viel los ist auf der Schiene.

So, gerade wankt Norman zurück in unser Abteil, er hat wohl genug von Wodka, Tequila, Bier, geräuchertem Fisch und was da sonst noch aufgetischt wurde, und legt sich hin - den einstündigen Aufenthalt in Nowosibirsk demnächst werden wir wohl beide verschlafen, da ist in der Dunkelheit sicher eh nicht viel zu sehen.

1 Kommentar:

  1. Ach meine Lieben, da werden Erinnerungen wach! Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich die Uhr "mehr so nach Gefühl" umgestellt habe. Und das zweifelhafte Frühstücksverhalten wurde mir gleich am ersten Morgen zum Verhängnis :) Genießt es!

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