23.9.11

Die tapferen Schneiderlein (15.09.2011)

Ab 5 Uhr sind wir wach, das Licht geht an, und so behalten wir die vorbeiziehenden Bahnhöfe im Auge. Zum Glück gibts es schon einen Chaiwallah, während wir den süßen und heißen Tee schlürfen, räumt der übereifrige, korpulente Steward quasi unter unserem Hintern die Decken und Laken wieder weg und erzählt uns zig Mal, dass jetzt gleich der "final stop" kommt. Und so fahren wir um kurz nach 6 Uhr bei völliger Dunkelheit im größten Bahnhof Mumbais, dem Victoria Terminus, ein.
Zu unserer Verwunderung schläft die Stadt noch tief und fest, als wir rausgehen und uns draußen umschauen, spricht uns niemand an, keine Taxifahrer, Gepäckträger, Verkäufer stehen Spalier. Es ist nass draußen, wir wechseln von den Flipflops in die Turnschuhe, denn nach den Rutschpartien in Varanasi soll kein Risiko eingegangen werden.
Leider hat selbst der McDonalds am Bahnhof noch geschlossen, doch zum Glück ist unsere Unterkunft nicht weit, und so marschieren wir die 10 Minuten zu Fuß ins Welcome Hotel, vorbei an schlafenden Gestalten auf dem Gehweg.
Wir dürfen dort leider erst ab 8 Uhr in unser Zimmer, können aber immerhin unser Gepäck dalassen und stehen pünktlich um 7 Uhr, zur angeschriebenen Öffnungszeit, wieder vor dem McD - der dann auch mit "nur" 15 Minuten Verspätung öffnet, und auch bis zur Bestellung und deren Bearbeitung dauert's ein wenig. Aber schließlich sind wir gesättigt und mit Kaffee versorgt, und beziehen zurück im Hotel unser Dreibettzimmer.
Es ist klamm, ohne nennenswertes Fenster, mit ohrenbetäubender Klimaanlange und mit Gemeinschaftsbad und -dusche auf dem Flur, dafür im teuren Mumbai halbwegs bezahlbar. Draußen geht gerade der heftigste Regenguss nieder, den ich je gesehen habe, dafür ist Mumbai in der Monsunzeit berühmt. Wie gut, dass wir bereits im Trockenen sind.
Und so nehmen wir uns Zeit, um auszupacken, zu duschen und ein wenig herumzuräumen. Als wir aufbrechen wollen, regnet es immer noch, und da wir nach der ganzen Zugfahrerei zu erledigt für Sightseeing sind, fahren wir mit dem Taxi durch die morgendliche Rush Hour in die Phoenix-/Palladium Mall im Norden Mumbais. Die Fahrt dauert fast 1 Stunde, die Stadt nimmt kein Ende, auf den Straßen geht es aber tatsächlich ein wenig gesitteter zu, und zum ersten Mal fahren hier uach "westliche" Autos wie BMW oder Mercedes. Richtig großstädtisch sieht es ringsherum aus.
Die Palladium-Mall ist vollkommen übertrieben luxuriös, sauber, gut riechend, mit Läden wie Mövenpick, Zara oder Adidas. In der Phoenix Mall nebenan hat wenigstens schon ein Café geöffnet, wir pimpen uns mit Koffein, so richtig fit sind wir immer noch nicht. Schließlich shoppen wir den Vormittag über so vor uns hin, kaufen hübsche Klamotten bei FabIndia und bummeln hin und her.
Gegen Mittag suchen wir uns ein Taxi, der Fahrer, der als erster zu unserem Preis einknickt, spricht leider nicht wirklich Englisch und kann offenbar auch nicht lesen. Als er uns an einem falschen Ort aussteigen lassen will, müssen ihm Passanten erklären, wo wir eigentlich hinwollen. Nämlich zu einer Pizzeria direkt am Marine Drive, dort essen wir leckere Pizza und Pasta zu sehr europäischen Preisen.
Als ich auf die Toilette gehe, die in der Bar nebenan ist, stelle ich fest, dass ich den Ort kenne, weil ich dort 2007 mit Norman mal einen Abend verbracht habe. Schon ein Zufall in einer geschätzten 18-Millionen-Einwohner-Metropole.
Die Reserven sind nach dem Essen wieder deutlich aufgefüllt, und so gehen wir zu Fuß durchs Churchgate- und Fortviertel zurück zum Hote. Wir schlendern dabei entlang von Straßenständen, ich erstehe fürs nächste Schrottwichteln und nach erfolgreichen Verhandlungen die Scheußlichkeit des Jahres (mehr wird nicht verraten), und gegen 16 Uhr sind wir endlich da.
Weit Nitschi aus ihrer in Varanasi gekauften Seide noch einen Schlafsack nähen lassen will, fragen wir an der Rezeption nach einem Schneider. Und siehe da, im 1. Stock des Gebäudes gibt es wohl eine Schneiderei. Ich begleite Nitschi dorthin. Und wer "Das Gleichgewicht der Welt" von Rohinton Mistry (eines der bewegendsten und großartigsten Bücher, das ich je gelesen habe), kennt: wir stehen mittendrin im Elend eines Mumbaier Schneider-Daseins. In einem 2x2m großen Zimmerchen stehen zwei alte Singer-Nähmaschinen. Der restliche Raum ist vollgestopft mit Stoffen, auf dem Boden liegen Stoffreste und Fussel, und überall liegt Staub in so dicken Schichten, die vermuten lassen, dass seit Jahrzehnten hier nicht mehr geputzt wurde. In diesem Verhau liegt ein Mann am Boden und schläft, ein anderer liegt oben auf der Kommode, dem einzigen Möbelstück, dösend, ein dritter sitzt am Boden und bügelt mit einem vorsintflutlichen Bügeleisen, einer vierter näht, ein fünfter steht herum. Alle sind deutlich über 40/50 und gehören sichtlich zur ärmeren Bevölkerungsschicht.
Es ist beklemmend, uns fehlen fast die Worte, und als der Preis fürs Nähen des Schlafsacks - nach diversen Vermessungen und Fachsimpeleien - genannt wird, klingt der zwar fast unverschämt hoch (gut 3 Euro!), aber ich glaube, Nitschi wäre bereit, auch das Doppelte zu zahlen, so schlimm ist der Anblick. Der Riss in meinem schon sehr dünn gewordenen grünen Seidenschlafsack wird en passant mit dem bereits eingespannten blauen Faden genäht, aber ich habe keine Lust, da pingelig zu sein. Wir flüchten von diesem trostlosen Ort in unser gleich viel freundlich wirkenderes Zimmer, und machen eine gut zweistündige Siesta, in der wir drei tief und fest schlafen.
Nach dem servierten "Abendtee" machen wir uns gegen 19 Uhr, es ist bereits dunkel draußen, auf ins Nachtleben. Zu Fuß spazieren wir Richtung Colaba, unterwegs erstehe ich im Liquor Store eine kleine Flasche Old Monk-Rum als Mitbringsel zu einem deutlich höheren Preis als noch in Goa. Wir passieren Bars, Essensstände, Banken, Bettler, tausende Geschäfte, überall sind Menschen auf der Straße unterwegs. In Colaba selbst reiht sich ein Straßenstand mit Schuhen, Schals, Schmuck, Tand und anderem Schnickschnack an den anderen, jeder Händler spricht uns mit einem "Yes, madam, have a look" an. An diese Straße kann ich mich von meinem Aufenthalt in Mumbai vor 4 Jahren noch gut erinnern.
Wir shoppen dies und das (Räucherstäbchen für unser muffliges Zimmer!) und verziehen uns dann in eine Seitengasse in ein Internetcafé. Nitschi ist früher fertig als Mara und ich, stromert alleine draußen herum und kehrt stolz wie Oskar mit zwei kleinen Päckchen "Sweet Paan" (also ohne Tabak) zurück. Die Verkostung dieser in ein grünes Blatt eingewickelten Spezialität (gefüllt mit Kardamom, Anis und anderen Gewürzen), etwa streichholzschachtelgroß und auf jeden Fall auf einmal in den Mund zu nehmen, vollzieht sie unter Anleitung eines sehr freundlichen älteren Herrn und photographisch dokumentiert von Mara draußen auf der Straße. Scheint ganz lecker zu sein, nur das mit dem Ausspucken muss wohl noch geübt werden. Die zweite Portion wird an das nächstbeste bettelnde Kind verschenkt...
Obwohl es schon fast 22 Uhr ist, brummt das Leben auf der Straße und in den umliegenden Bars. Wir kehren im berühmten "Café Leopold", einer echten Institution Mumbais, ein. Es ist gerammelt voll, junge Inder und auch ein paar Touristen sitzen an den kleinen Tischen, es gibt Pitcher mit Bier und typisches Bar-Essen, es ist laut, die Kellner sind Spaßvögel.
Wir bestellen, nachdem wir vom Türsteher erst durchsucht und dann zu einem freien Platz gewiesen wurden, auch einen solchen Pitcher und Nachos, und kurz darauf liegt eine Serviette auf unserem Tisch, von den indischen Jungs am Nebentisch mit schwülstigen Komplimenten beschrieben. Wir kommen uns vor wie die Teenager, spielen aber doch ein wenig mit, reichen Zettelchen hin und her, und als Nitschi auf dem Klo verschwindet, nutzt der eine vermeintliche Herzensbrecher die Gelegenheit und passt sie am gemeinsamen Waschbecken draußen ab und spricht sie an. Er ist sichtlich betrunken, setzt sich an unseren Tisch und ergeht sich in schlecht einstudierten Komplimenten. Kurzerhand erfinden wir drei daraufhin komplett neue Identitäten für uns, und machen uns ein bisschen einen Spaß mit ihm. immer besorgt beäugt von den umsitzenden Indern an den Nebentischen und den Kellern, die uns alle signalisieren, dass wir nur ein Zeichen geben müssten, wenn wir den Kerl loswerden wollen. Irgendwann wird er von seinem Kumpel, dem das alles sichtlich peinlich ist, nach Hause komplimentiert. Kaum ist er weg, entschuldigen sich die Jungs am Nebentisch für das "schlechte Benehmen" ihres Landmanns, auch keine schlechte Anmache, und wir sind sofort wieder im Gespräch und bekommen Ausgehtipps.
Nachdem der zweite Bier-Pitcher geleert ist, beenden wir den Abend gegen Mitternacht und fahren mit dem Taxi zurück ins Hotel. Auf den Straßen liegen dicht an dicht eingewickelte Menschen und schlafen. So nah liegen hier Spaß, Großstadtleben, westlich orientierte Lebensweise und der Umgang mit topausgebildeten, reichen Indern und die Armut, der schlichte Überlebenskampf, Dreck, Elend und Hunger nebeneinander.
Ich erinnere mich wieder deutlich, dass es genau diese Mischung war, die mich damals schon so an Mumbai fasziniert hat. Und es ist immer noch da, ich finde diese Stadt gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit einfach großartig, lebendig, ständig überraschend und zutiefst berührend.

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